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Lene Rose Gruner
"Rätsel der Mehrdeutigkeit"

Die Mathematikerin und Künstlerin Lene Rose Gruner entwickelte bereits in den 80er Jahren eine einzigartige Kunstsprache, die sie 1993 in "Mehrdeutigkeit der Form" und 1995 als "Mathematik + Poesie = MAPO" theoretisch beschrieben und manifestiert hat. In Gruners Bildwerken geht es um die Kunst des genauen Hinsehens. Der Betrachter wird von der Künstlerin mit visuellen Phänomenen konfrontiert, die ihn wiederum dazu auffordern, über den Vorgang des Sehens und die Eindeutigkeit von Bildern Gedanken zu machen.
Die Arbeiten von Lene R. Gruner stehen in Beziehung zu verschiedenen mathematischen Gebieten, wie zum Beispiel der Mengenlehre oder der Topologie. Es werden auch konkrete mathematische Problemstellungen, wie bestimmte Parkettierungsprobleme oder die Untersuchung von Netzwerken in der Ebene deutlich. Namhafte Mathematiker, wie Penrose, Euler oder Gauß haben sich schon damit auseinandergesetzt. Die interdisziplinären Entdeckungen der Künstlerin selbst werden zusammen mit der poetischen Assoziationskraft der mehrdeutigen Figurenwelten als auch der unterstützenden Wirkung der Sprache für den Betrachter zu visuellen Entdeckungsreisen.
Gruners Werke sind aufgrund ihrer erfahrbaren Mehrdeutigkeit Bilder der vierten Dimension. Der Betrachter erlebt in ihren Arbeiten Herausforderungen in zweifacher Hinsicht: Zum einen können die Werke von allen vier Seiten wahrgenommen werden, wobei die formale Vieldeutigkeit immer wieder neu vom Rezipienten kombiniert werden kann. Zum anderen bieten die einzelnen Formen vielzählige neue Assoziationsmuster in ihren Zusammensetzungen. So interagiert der Betrachter nicht nur durch das Umschreiten der liegenden Arbeiten, sondern vielmehr durch den Einsatz seiner persönlichen Begriffs- und Erlebniswelt. Die vielschichtigen Bildinhalte stellen durch die Präsenz der mehrdeutigen Formenvielfalt eine mithin offene, variable Denkstruktur dar, die keineswegs durch den Bildrand inhaltlich und zeichnerisch begrenzt ist, sondern vielmehr auf den Raum, auf den Menschen und im weitesten Sinne auf die Gesellschaftsstruktur einwirkt. Lene Rose Gruner vermittelt in ihren Arbeiten Denkpfade, die den Betrachter durch die Erkenntnis der motivischen Kombinierbarkeit in seine persönliche Unendlichkeit verweisen.
Die Künstlerin Gruner gehört zweifellos zu den faszinierenden Protagonisten der mehrdeutigen Kunst, lässt sich jedoch gerade durch ihre eigenständige Kunstsprache nicht in das Gefolge von beispielsweise Guiseppe Arcimboldo, Max Ernst, M.C. Escher oder Salvador Dalí einordnen. Im Gegensatz zu den genannten Künstlerpersönlichkeiten erlebt der Betrachter in Gruners Werken keine kurzfristige Unterhaltung von mehrdeutigen Formen aus einer oder zwei Perspektiven. Allein die bildhafte Intensität der vier verschiedenen Blickwinkel zwingt den Rezipienten geradewegs zu einer langandauernden Beschäftigung mit Gruners Formenwelt.
Als größtmögliche Herausforderung bieten ihre Bilder durch die formale Kombination und Assoziationskraft eine sinnliche Reise in das endlose Rätsel der Mehrdeutigkeit. Lene Gruner hat MAPO-Bilder entwickelt, deren Netzwerke sich untereinander verknüpfen lassen. So existieren bei drei MAPO-Bildern 2304 Kombinations- und Anordnungsmöglichkeiten, wenn diese waagrecht, senkrecht oder im rechten Winkel täglich unterschiedlich präsentiert werden, wobei jeweils ein Bild gedreht wird. Dies bedeutet, ein Betrachter hat sechs Jahre und 113 Tage lang neue Sehanordnungen zur Verfügung, an denen er seine kreativen Kräfte entwickeln kann.
Lene Rose Gruners Werk ist nicht nur ein Beweis für ihre zeichnerische und malerische Perfektion, sondern es ist zugleich ein Spiegelbild für die Unendlichkeit ihres formalen, assoziativen und sprachlichen Vermögens.

Dr. Andrea Wolter-Abele,
Kunsthistorikerin